Eine lange Reise

Bericht: Janina, Fotos: Stephan


Lag es am schönen Wetter oder an der Ferienzeit? Bei den Treffen im Juli und August fanden nicht ganz so viele von uns den Weg nach Wangen wie meistens. Mit etwa zwanzig Girls war es nicht ganz so voll wie sonst – eine gute Gelegenheit, einmal längere Gespräche zu führen und vielleicht auch neue Bekanntschaften zu knüpfen.
Für mich war es auch eine Gelegenheit, über den Weg zu reflektieren, der mich zu GWHF geführt hat und den ich in den 15 Monaten, die ich nun ziemlich regelmäßig dabei bin, zurück gelegt habe. Gut erinnere ich mich an mein erstes Treffen, meine Nervosität, meine Angst, wie ich meine Hände versuchte, zu verstecken und wie mich Gina und Jenny liebevoll unter ihre Fittiche nahmen. Wie viel hat sich seitdem verändert. Zögernde nächtliche Ausflüge vor die Haustür gibt es nicht mehr, stattdessen freundlicher Smalltalk mit der Kassiererin bei Migros, Treffen mit Freunden im Café und Besuche im Kino und von Vorträgen.

Es ist eine lange Reise, die sicher noch lange nicht beendet ist. Wann hat sie begonnen? Ein Sommermorgen im Jahr 1973 kommt mir in den Sinn. Ich bin gerade in die erste Klasse gekommen und sehe meine Mitschülerin Monika im kurzen Röckchen ins Klassenzimmer kommen und denke bei mir: Warum darf ich mich nicht so anziehen? Schnell schiebe ich den Gedanken weg und doch kann ich mich nicht recht dagegen wehren: Ich sehe die Mädchen miteinander sprechen und spielen und will zu ihnen gehören, aber das geht ja nicht, das darf nicht sein. Unter den Jungs heißt Mädchen sein in erster Linie viel zu flennen, Haare zu ziehen und feige zu sein. Bin ich der einzige, der sieht, dass das einfach nicht stimmt? Warum mag ich es nicht, wenn abschätzig von den Weibern gesprochen wird?
Alle diese Gedanken werden fein säuberlich verschlossen, glaube ich – richtig dazu gehören tue ich aber bei den Jungs trotzdem nicht. Irgendwie tue und sage ich immer wieder Dinge, die unpassend sind. Mit den Jahren werde ich besser im Schauspielern, nur wenn ich alleine bin, lasse ich die falschen Gedanken zu. Mit dem Beginn der Pubertät wird alles noch komplizierter: Ich bin genauso scharf auf Mädchen wie die anderen Jungs, sehe mich aber vor meinem inneren Auge aber selbst immer wieder als weiblich.

Wenn es beim Fasching oder bei Kostümpartys eine Gelegenheit gibt, ein Kleid zu tragen, bin ich sofort dabei. Nach außen ist es ein Spaß, für mich ist es ernst. Verstehen tue ich allerdings nichts, es gibt kein Internet und niemand, mit dem ich mich traute, zu sprechen. Nur in meinem Jugendlexikon gibt es den Begriff Transsexualität. Für mich klingt die Beschreibung aber zu klinisch, zu abstrakt um sie mit dem Gefühlschaos in meiner Seele in Einklang zu bringen. Was ich dort und später anderswo lese, überzeugt mich allerdings, dass ich auf keinen Fall transsexuell (den Begriff Transgender gab es ja noch lange nicht) sein kann, denn überall steht, dass sich Trans-Menschen sexuell zu ihrem Geburtsgeschlecht hingezogen fühlen. So unsicher ich mir mit meiner Identität bin, so sicher bin ich mir bei meiner Orientierung, die auch von praktischen Erfahrungen bestätigt wird.
Der Schritt ins Erwachsen-Werden lässt Vieles in den Hintergrund treten: Studium, Geldnot, Arbeit, Ablösung vom Elternhaus und eine frühe Heirat lassen kaum Raum für Selbstfindung und doch zeigt sich schnell, dass nicht alles so ist, wie es sein soll. So gut wie sich meine Frau und ich uns auf freundschaftlicher Ebene verstehen und so gut der Sex ist, so sehr häufen sich die Konflikte. In der Rückschau ging es dabei immer wieder um Rollenverhalten, klar sehen konnten wir das beide nicht. Mit den Jahren wächst das gegenseitige Missverstehen, ich schiebe es jedoch auf externe Faktoren: den Tod unserer beiden Väter, die vielen wirtschaftlichen Schwierigkeiten.
Ein tiefer Einschnitt kommt, als ich eine Arbeit in London annehme und wir scheinbar in einer bürgerlichen Existenz ankommen. Schnell fällt die Entscheidung, Kinder zu bekommen doch es würde noch Jahre dauern, bis es dazu kam. In der Zwischenzeit kamen auch wieder die Fragen nach meiner Identität auf und ich hatte scheinbar eine Antwort auf die Frage gefunden, was ich denn nun sei: Ich hielt meine Gefühle für den Ausdruck einer fetischistischen Neigung, die ich allerdings nicht vorhatte auszuleben.

Die Schwierigkeiten, Kinder zu bekommen, belasteten unsere Beziehung zunehmend, als die biologische Uhr langsam aber sicher zu ticken begann. Der Umzug meiner Firma von Großbritannien in ein Schweizer Steuerparadies und die Eingewöhnung in eine neue, nun recht ländliche und in vieler Hinsicht fremdartige Umgebung, lenkten eine Weile ab. In dieser Zeit entdeckte ich die Möglichkeit, eine virtuelle weibliche Identität anzunehmen, was ich sehr genoss und mir immer wieder half, die depressiven Schübe, die mich seit jeher begleiteten, zu verdrängen.
Weder die Flucht in imaginäre Welten, noch die Geburt meiner Tochter, ein Hauskauf und schließlich die meines Sohnes konnten verhindern, dass mein Leben immer mehr außer Kontrolle geriet. Im Dauerstress zwischen Arbeit und Familie jagte eine Krise die nächste. Tief greifende Veränderungen in der Firma zu meinem Nachteil und der Krebstod meines besten Freundes taten ihr Übriges. Erholung fand ich nur, wenn ich in privaten Momenten in eine andere, weibliche, Rolle schlüpfen konnte – inzwischen hatte ich auch heimlich Kleider und Schuhe gekauft.

Der völlige Zusammenbruch kam, als ich innerhalb weniger Wochen meine Arbeit verlor und von meiner Frau vor die Tür gesetzt wurde. Dass sie in dieser Zeit auch meine Frauenkleider entdeckt hatte, war dabei allerdings nur noch das Tüpfelchen auf dem i. Während des Aufenthalts in einer psychiatrischen Klinik entschloss ich mich, mich meinen Neigungen zu stellen. Da ich meine Genderdisphorie zu dieser Zeit noch für einen Kleiderfetisch hielt, suchte ich den Kontakt zur entsprechenden Szene, bemerkte aber schnell, dass dies nicht meine Welt ist. In dieser Zeit entdeckte ich zum Glück GWHF und entdeckte, dass ich nicht so alleine war, wie ich immer geglaubt hatte.
Dank euch habe ich gelernt, wie viele Facetten Transgender-Sein haben kann und dass auch wenn ich nach wie vor hohe Absätze und kurze Kleidchen liebe, dieses nicht das Wesen meiner speziellen Ausprägung ausmacht. Ich habe gelernt, mich nicht zu schämen, wenn ich als Trans-Mensch gesehen werde.
Wie es weiter geht, weiß ich noch nicht, insbesondere nicht, ob ich mir den Schritt zur vollständigen Transition zutraue und ob er der richtige für mich ist. Zunächst gilt es für mich, wieder mein Leben insgesamt in den Griff zu bekommen. Zwei Dinge weiß ich aber mit Sicherheit: Ganz zurück will ich und kann ich nicht mehr und dass ich mich noch auf viele Treffen mit euch allen freue.

Eure Janina